Was ist echt? | Tag 4
Rebekka Zeinzinger und Irene Zanol vom Literaturpodcast „Auf Buchfühlung“ berichten täglich von den Europäischen Literaturtagen.Rebekka Zeinzinger und Irene Zanol vom Literaturpodcast „Auf Buchfühlung“ berichten täglich von den Europäischen Literaturtagen.
Was ist echt? | Tag 4
Sonntag, 23. November 2025
Die Sonntagsmatinee bildet alljährlich zugleich Höhepunkt und Endpunkt der europäischen Literaturtage. Sie findet in diesem Jahr zu Ehren der Schriftstellerin Eva Menasse statt, die mit dem Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln ausgezeichnet wird.
Nach der Laudatio des Politologen Ivan Krastev, der Eva Menasses bedeutende intellektuelle Beiträge zu wesentlichen Debatten der Gegenwart lobt, darunter zur Identitätspolitik, zum Überfall Russlands auf die Ukraine sowie zu Israels Krieg in Gaza, verleiht der Präsident des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels, Benedikt Föger, der Autorin den Preis. In ihrer Dankesrede erinnert die 1970 in Wien geborene und seit 25 Jahren in Deutschland lebende Menasse zwei Geschichten, die nicht vergessen werden sollen, “wie die allermeisten Geschichten, die Tag für Tag und in solcher Geschwindigkeit über uns hereinbrechen, dass man gar nicht mehr dazu kommt, die Besonderen von den Banaleren zu unterscheiden.” Die erste war die Geschichte rund um die nicht erfolgte Verleihung eines Literaturpreises an die palästinensische Schriftstellerin Adiana Shibli kurz nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, die zweite die “bis heute anhaltende Hinrichtung der öffentlichen Person” des Journalisten Fabian Wolff, nachdem er selbst enthüllte, dass die eigene jüdische Herkunft, von der er ausgegangen sei, auf eine falsche Aussage seiner Mutter beruhe und er “depubliziert” und mit einem de facto Publikationsverbot belegt wurde. Eva Menasse rief diese beiden Beispiele in Erinnerung und schloss ihre Dankesrede mit den Worten: “Ich glaube, wir alle müssen sorgfältig die Geschichten, denen wir täglich begegnen und die auf den ersten Blick moralisch eindeutig aussehen, so lange drehen und wenden bis wir wenigstens eine winzige Veränderung von Licht und Schatten entdeckt haben, eine, die nicht unseren festgefügten Vorannahmen entspricht.”
Im Gespräch mit Katja Gasser gibt sie Einblick in Persönliches und Politisches, in ihren Werdegang und ihr Schaffen sowohl als Literatin als auch als Journalistin, teilt aber auch ihre Einschätzungen der aktuellen politischen Lage, die sie als “verstörend” bezeichnet, mit. Es sei angesichts der zunehmend aggressiven Stimmung immer schwieriger geworden, sich politisch zu engagieren oder auch nur zu äußern. In Bezug auf Meinungsfreiheit betont sie, dass es immer darum gehen müsse, die Meinung der anderen zu tolerieren und warnt vor der zunehmenden missbräuchlichen Verwendung des Begriffs, wenn tatsächlich nur die Freiheit der eigenen Meinung gemeint sei. In diesem Zusammenhang kritisiert sie auch Teile der intellektuellen und journalistischen Elite, in Deutschland wie in Österreich, die sich moralisch überlegen fühlten. Aber wichtiger als zu analysieren, warum sich etwa althergebrachte Parteien bei Wahlen schwer tun, die Menschen zu erreichen, sei ihr, sich auf das zu fokussieren, was politisch funktionieren würde, und nennt dabei die Erfolge der kommunistischen Partei in Graz oder der Linken in Deutschland. Klare, differenzierte und für manche bestimmt auch unbequeme Worte sind es, die Eva Menasse findet. Genau diese “analytische Schärfe, Unbestechlichkeit und moralische Integrität”, wie es in der Jurybegründung heißt, sind es auch, für die sie mit dem diesjährigen Preis ausgezeichnet wird.
Musikalisch umrahmt wurden die Feierlichkeiten des Vormittags von Carles Muñoz Camarero & Paul Schuberth an Violincello und Akkordeon.