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Was ist echt? | Tag 3

Rebekka Zeinzinger und Irene Zanol vom Literaturpodcast „Auf Buchfühlung“ berichten täglich von den Europäischen Literaturtagen.
Auf Buchfühlung (Rebekka Zeinzinger & Irene Zanol)

Rebekka Zeinzinger und Irene Zanol vom Literaturpodcast „Auf Buchfühlung“ berichten täglich von den Europäischen Literaturtagen. 

Was ist echt? | Tag 3
Samstag, 22. November 2025

11.00 Uhr, Queer, fluid, posthuman. Elisabeth Klar und Kes Otter Lieffe im Gespräch mit Irene Zanol und Rebekka Zeinzinger

“Queer, fluid, posthuman” - das ist der Titel der ersten Veranstaltung des Vormittags und das sind auch die Figuren, die Elisabeth Klars 2023 im Residenz Verlag erschienen Roman Es gibt uns bevölkern. In ihrem “posthumanistischen Utopieroman” sind Spezies verschwunden und andere entstanden - Mischwesen, mit denen die biologischen Grenzen verwischen. Es sei ihr nicht schwer gefallen, das Konzept “Mensch” im Schreibprozess über Bord zu werfen, so die Autorin, und ebenso war es für sie von Beginn an klar, dass sie sich nicht auf zwei Pronomen, die eine auch wissenschaftlich längst nicht mehr haltbare Binarität von Geschlechtern behaupten, beschränken wollte. Im Gespräch schilderte Klar ihre Auseinandersetzung mit Donna Haraways feministischem Konzept über die “Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän” und den Versuch, dieses Konzept literarisch umzusetzen. Über recherchierte, “echte” Fakten, die in den Roman einflossen, wie etwa die Funktion der Anemonen, die Radioaktivität in der verstrahlten Stadt Anemos anzeigen oder den Schleim, der als Sieger hervorginge, wenn das komplexe Leben im Niedergang sei, gab die Autorin ebenso Auskunft wie über die Bedeutung von Theater und Geschichten für die Gemeinschaft in Anemos. Mit ihrem Roman legt Elisabeth Klar eine Geschichte vor, mit der sie auf Veränderungen in der Gesellschaft reagiert - auf Queerness, Fluidität, Posthumanismus - und die durchaus als Beitrag zu einem Verhandeln von neuen, veränderten Regeln des Miteinander verstanden werden kann. 

Kes Otter Lieffes Roman Von wo wir kommen spielt irgendwo in Europa, im Jahr 2040. Nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft und der Verbannung aller marginalisierten Menschen aus der Stadt, haben sich diese Menschen außerhalb der Stadtmauern eingerichtet, in dem, was durch die Klimakatastrophe vom Wald übriggeblieben ist, in Gemeinschaften, aber auch etwas abseits davon, wie Ash und Pinar, die Hauptfiguren dieses Romans, ehemalige Anführer*innen der sogenannten Femme Riots der 2020er-Jahre, die nun, im Alter, erneut zu Widerstandskämpfer*innen werden, denn das Leben der Diskriminierten in und außerhalb der Stadt wird erneut bedroht. Der Roman beschreibt angesichts global zunehmend autoritärer Tendenzen und einem spürbaren “Backlash” gegen Minderheiten nicht nur ein durchaus realistisches Szenario, das trans queere Lebensrealitäten in den Mittelpunkt stellt, sondern erzählt eine überaus spannende Geschichte über Gemeinschaft, Widerstand, Natur und, ja, auch Zeitreisen. Denn Trans-Personen seien, so Kes Otter Lieffe, auf eine gewisse Weise selbst immer Zeitreisende, da ihr Leben in ein “Davor” und ein “Danach” eingeteilt werden kann. Welche zentrale Rolle auch die Natur im Roman spielt, wird spätestens in den Ausführungen über queere Ökologie deutlich, die den Menschen untrennbar mit seiner Umwelt verbunden sieht. Die Anknüpfungspunkte zu Elisabeth Klars Roman sind vielfältig.

12.20, Nerds, nicht-weiß, nicht-männlich. Simoné Goldschmidt-Lechner im Gespräch mit Irene Zanol und Rebekka Zeinzinger 

Aus Hamburg in den Klangraum Krems Minoritenkirche zugeschaltet ist uns die interdisziplinäre Künstlerin, Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin Simoné Goldschmidt-Lechner, die sich in Nerd Girl Magic der Nerd und Geek Culture aus nicht-weißer, nicht-männlicher Perspektive widmet und - ausgehend von persönlichen Erfahrungen seit der Kindheit - das nerdy Coming-of-Age als Potential für gesellschaftlichen Widerstand und Wandel diskutiert. Sie spricht über das Bild des Nerds, das sich im Lauf der Zeit geändert hat und über Nerd-Kultur als einen (queeren) Rückzugsort, womit sich auch eine Verbindung zu den ersten Gesprächen des Tages herstellen lässt. Wie die Realität, das “echte” Leben sich auf die Gaming Szene auswirkt, führt sie anhand des Phänomens #GamerGate aus, dem Bemühen von ausschließlich männlichen Nerds, insbesondere nicht-männliche, nicht-weiße Gamer*innen aus der Szene auszuschließen, was mit Incels oder Verschwörungstheorien wie QAnon zusammenhängt. Ihre Lesung aus dem 2025 im Verbrecher Verlag erschienen Buch schließt sie mit den Worten “I am your revolution, baby. I’m a nerd girl”. 

14.00 Uhr, Japanische Teezeremonie. Gastgeber: Christoph Peters, Moderation: Judith Hoffmann

Während das geschäftige Treiben in Krems durch die große Glasfassade der Landesgalerie Niederösterreich hindurch sichtbar bleibt, geht es im Inneren ganz still zu. Mit einer traditionellen japanischen Teezeremonie nimmt uns der Schriftsteller und Künstler Christoph Peters zusammen mit Judith Hoffmann mit auf die Reise zu einem uralten Ritual - 25 Minuten in Stille.

Im anschließenden Gespräch berichtet er von dem Ritual und der ihm zugrunde liegenden Philosophie sowie von seinem Weg, es zu erlernen. All die aufeinander abgestimmten Bewegungen einzuüben und den Idealzustand der “Konzentration in der halben Unschärfe des Blicks” zu erreichen, dauere sehr lange. Denn der Teeweg, so Peters, sei eine lebenslange Übung, man beherrsche ihn nie völlig. Erreicht man den angestrebten Zustand der "unkonzentrierten Konzentriert", stelle sich ein Zustand innerer Ruhe ein, der sich auch auf andere Bereiche des Lebens erstrecke. Im Gespräch mit Judith Hoffmann führt der Schriftsteller nach einer kurzen Lesung aus seinem Buch Diese wunderbare Bitterkeit. Leben mit Tee aus, dass in der Teezeremonie alle Klassenunterschiede aufgehoben seien, was in einer extrem hierarchischen Gesellschaft wie der japanischen sehr besonders sei: "Im Teeraum sind alle gleich.”

17.30 Uhr, Fabelhafte Wirklichkeit. Pajtim Statovci im Gespräch mit Rosie Goldsmith

Die Begegnung eines Migranten aus dem Kosovo mit einer homophoben, rassistischen Katze in einer Schwulenbar in Finnland – nichts weniger als das steht im Zentrum von Pajtim Statovcis preisgekröntem Roman Meine Katze Jugoslawien (aus dem Finnischen übersetzt von Stefan Moster). Es ist eine surreale Geschichte mit viel magischem Realismus, die der mehrsprachige Autor vorgelegt hat und über die er sich mit Rosie Goldsmith unterhält. Was hat es aber mit dieser surrealen Katzen-Beziehung auf sich? Sie spiegelt vieles wider, was einem schwulen, migrantischen, muslimischen und somit mehrfach diskriminierten Menschen wie ihm in einer Gesellschaft wie der finnischen widerfährt. Denn Zuneigung und Liebe durch ein Wesen wie die manipulative Katze zu erhalten erscheint dem Protagonisten Bekim besonders erstrebenswert, er muss erst dafür kämpfen und sich als ihr würdig erweisen – ähnlich ist es mit der Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft. 

Der Autor erzählt, wie Bücher in seiner Kindheit für ihn die Freiheit bedeuteten, die reale Welt zu verlassen und ins Imaginäre zu entfliehen. Als Flüchtlingskind aus dem Kosovo litt er unter einem „Fluch der niedrigen Erwartungen“, die ihm Lehrer und andere entgegenbrachten. Das zeigt: Die Privilegien, die jemandem zugestanden werden, hängen stets von den Assoziationen ab, die Menschen in Bezug auf Herkunft, Ethnie, Religion, Hautfarbe etc. haben. Dieses Thema habe er vor allem in seinem Roman Crossing verarbeitet, nämlich dass sich viele Menschen aufgrund der ihnen entgegengebrachten Stereotype für ihre Ethnie schämen würden. Ob er irgendwann auch ein Buch schreiben würde, das „rein in Finnland“ spielen wird?, fragt Rosie Goldsmith. Er kontert: Warum sollte er keine weiteren Bücher über Queerness und den Balkan schreiben? Ein finnischer Autor werde normalerweise auch nicht gefragt, ob er weiterhin Bücher über heterosexuelle Finnen schreiben wolle. In seiner Literatur könne er schreiben, was er wolle, ohne unterbrochen zu werden - das sehe er als seine Berufung als Autor. 

18.10 Uhr, Gefälschte Gemälde. Clare Clark im Gespräch mit Rosie Goldsmith

Um Vincent Van Gogh, Berlin in den 1920ern, Kunsthandel und Kunstfälschung geht es im folgenden Gespräch mit der britischen Autorin Clare Clark. Der Roman, einer von mehreren historischen Romanen aus Clarks Feder, basiert auf einem wahren Fall von Kunstfälschung und wirke, so Rosie Goldsmith, als sei er geradezu für das diesjährige Festivalthema verfasst worden. Die Lücken im tradierten Narrativ hätten die Autorin dazu inspiriert, sie zu einer fiktionalen Geschichte auszubauen, die mehreren Protagonisten ins Berlin von 1925 folgt. Deutschland habe den Ersten Weltkrieg als große Ungerechtigkeit wahrgenommen – in diesem Kontext wurde Vincent Van Gogh als Künstler stilisiert, der zeitlebens nie anerkannt wurde, dessen Zeit nun aber gekommen wäre. Eine Messias-Figur geradezu, die in der deutschen Psyche auf fruchtbaren Boden fiel. Seine Biografie sei also “erfunden” worden, noch bevor seine Gemälde überhaupt nach Deutschland kamen.

Van Gogh selbst war einer der Ersten, der über die Idee des Echten auf eine neue Weise nachgedacht hat: Authentizität hätte mehr mit einem Gefühl zu tun als mit etwas, das die Umgebung bestimmt. Das “Echte” liegt also tatsächlich im subjektiven Empfinden. 

Letztlich sei es ein Buch darüber, wie echt und authentisch wir alle sind. In den 1920ern war aufgrund der Inflation selbst die Echtheit des Geldes infrage gestellt. Berlin war in dieser Zeit plötzlich voller Geld – und Kunst wurde ein anderer monetärer Wert zugesprochen, so Clark, die anschließend aus dem von Bernhard Jendricke und Christa Prummer-Lehmair aus dem Englischen übersetzten Roman Im gleißenden Licht der Sonne las. 

20.00 Uhr, Worte und Töne II: Hanna Bervoets, Gabriela Wiener und ARK

“Kaum jemand ist so von Neugier und Entdeckungslust getrieben wie das Trio ARK”, führte Moderatorin Judith Hoffmann die Musiker*innen Mona Matbou Riahi, Miriam Adefris und Lukas Kranzelbinder ein, die sogleich in einen musikalischen Dialog eintauchten, der die Minoritenkirche erfüllte. 

In ihrem 2022 in deutscher Übersetzung von Rainer Kersten erschienenen Roman Dieser Beitrag wurde entfernt nimmt die niederländische Autorin Hanna Bervoets die Leser:innen mit in einen Medienkonzern, in dem die Content-Moderatorin Kayleigh unter großem zeitlichen Druck Social-Media-Beiträge prüft. Im Gespräch führt die Autorin aus, dass ihr erstes Interesse an dem Thema der Sensationslust galt, die Menschen gegenüber Content-Moderatoren zeigten. Denn sie würden zuerst immer fragen: Was hast du gesehen? und nicht: Wie geht es dir damit? Sie habe für ihren Roman viel recherchiert und sei immer wieder auf Traumata gestoßen, die Menschen haben, die in diesem Beruf arbeiten und die sich Coping-Strategien überlegen müssten, um der Arbeit täglich nachkommen zu können. 

Bervoets beschreibt auch ihre eigenen Arbeitserfahrungen in diesem Bereich. Sie habe sich auf eine Maschine reduziert gefühlt und sich ständig die Frage gestellt: Was ist “normal”? Und wer bestimmt, was “normal” ist? Es sei eine Gratwanderung gewesen zu entscheiden, was in dem Roman, der im niederländischen Original den Titel “Was wir sahen” trägt, an Gewalt beschrieben, und was besser umschifft werden sollte. Auch die Frage danach, wer bestimmt, was gezeigt werden darf, streift die Autorin und stellt fest, dass bei Meta aus einer männlichen, weißen, christlichen Perspektive heraus agiert wird. Bis vor zwei Jahren war für die Richtlinien vor allem maßgeblich, was die Investoren wollten, seit der zweiten Amtszeit Donald Trumps ist der Schutz für vulnerable Gruppen unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit vollends gefallen, wodurch sich Moralvorstellungen weiter verschieben. In der Lesung der Schauspielerin Michou Friesz taucht das Publikum abschließend in den Roman ein. 

Im zweiten Teil des Abends begibt sich Judith Hoffmann mit Gabriela Wiener, einer peruanischen Autorin, die heute in Madrid lebt, und ihrem Roman Unentdeckt auf Spurensuche in die Familiengeschichte. Wieners Ururgroßvater war nämlich Charles Wiener, der im 19. Jahrhundert präkolumbianische Grabbeigaben erbeutete und nach Europa schaffte. In dem autofiktionalen Roman geht sie der Frage auf den Grund, warum man in ihrer Familie so stolz war auf diesen europäischen Entdecker, dessen Porträt in ihrem Wohnzimmer hing - ein Patriarch, der Sigmund Freud unheimlich ähnlich sah. Dass er überhaupt ein “Entdecker” gewesen sei, stellt sie in Frage, denn der Begriff allein macht deutlich, dass die “entdeckten” Länder und Kulturen ja nur für die Europäer etwas Neues gewesen waren. Man dürfe nicht vergessen, dass Charles Wiener auf der Weltausstellung seine Exponate direkt neben einem menschlichen Zoo ausgestellt habe. Viele Weiße hätten damals auch geglaubt, sie würden indigene Kinder „retten“, indem sie sie ihren Eltern wegnehmen und nach Europa bringen und ihnen etwa Bildung ermöglichen. Dieses Gefühl der Überlegenheit existiere in weiten Teilen bis heute.

In Wieners durchaus von Ironie und zynischem Humor durchzogenen Text demaskiert sie den Mythos der großen Entdeckerpersönlichkeit und stellt der Familienfiktion ihre eigene Fiktion gegenüber, die sich auch aus ihrer eigenen Perspektive als Migrantin - als in Europa lebende Lateinamerikanerin - speist. Danach befragt, ob sich durch die Spurensuche auch ein paar Knoten gelöst haben, antwortet Wiener, dass der Prozess der Entkolonialisierung längst noch nicht abgeschlossen sei und wir noch nicht am Ende dieser Entwicklung stünden. In dem abschließend vorgelesenen Abschnitt spaziert die Ich-Erzählerin durch ein Museum in Paris, das wie so viele europäische Museen unzählige geraubte Kunstwerke beherbergt. “Ein schönes Museum, gebaut auf etwas sehr Hässlichem.”

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