Text

Erinnerungen an die Unterentwicklungen

Im Wettstreit der Kolonialmächte um die Weltherrschaft von 1860 bis heute prägen auch die reisenden Schriftsteller das Bild der außereuropäischen Kulturen mit.
Hans Christoph Buch

Der Text wurde für die Europäischen Literaturtage 2016 verfasst.

1 An Ostern 1968 besuchte ich zum ersten Mal Haiti, das häufig mit Tahiti verwechselt wird, manchmal sogar mit Hawaii. „Wie viel müssen wir Ihnen bezahlen, damit Sie endlich aufhören, über Tahiti zu schreiben“, sagte der Verleger Siegfried Unseld einmal zu mir: „Oder handelt es sich um Hawaii?“ Die Antwort auf diese Fragen gibt mein Roman Die Hochzeit von Port-au-Prince, den Unseld 1984 herausbrachte. Der folgende Text stammt aus diesem Buch, aber er ist älteren Datums und stand Ende 1897 im Satireblatt Kladderadatsch, als Wilhelm II. Kriegsschiffe entsandte, um Haiti die Hosen stramm zu ziehen, wie es hieß:

 „Mensch, nutze die Gelegenheit 
Und präge dir in dieser Zeit 
Den Unterschied – die Müh ist klein – 
Von Haiti und Hawai ein.
Willst du ganz sicher gehen, nimmst du 
Auch gleich Tahiti noch dazu.
Du prägst dir ein, wo jedes liegt 
Und gehst zum Stammtisch dann vergnügt.“ 

Damals - 1968, nicht 1897 - war ich 24 Jahre alt und studierte am Writer’s Workshop der University of Iowa. Mein Vater, der in Haiti geboren, aber in Deutschland aufgewachsen war, lud mich ein, ihn nach Port-au-Prince zu begleiten, um eine Erbschaftsangelegenheit zu klären. Ich hatte viel von dem Inselstaat gehört: Eine Mahagonitafel mit dem Wappen Haitis - einer mit Jakobinermütze gekrönten Palme, Bündel von Bajonetten und zu Pyramiden gehäuften Kanonenkugeln - hing über der Anrichte im Wohnzimmer meiner Eltern, aber ich hatte die „Negerrepublik“, wie man damals sagte, nicht mit eigenen Augen gesehen und kannte die Dritte Welt nur vom Hörensagen. 

Diese Bezeichnung für blockfreie Staaten, meist ehemalige Kolonialgebiete, die keinem westlichen oder östlichen Militär- und Wirtschaftsbündnis angehörten, war kurz zuvor in Mode gekommen: Ein fernes Echo von Maos Kulturrevolution, die dessen Stellvertreter Lin Biao initiiert hatte mit der Parole „Die Welt-Dörfer rüsten zum Sturm auf die Welt-Städte!“ 

Ich war ideologisch vorprogrammiert, aber politisch eher unbedarft: Auf der Schiffsreise nach New York und später in Iowa hatte ich Aufsätze und Reden von Che Guevara und Mao Tsetung gelesen, Trotzkis Autobiographie und den Essay „La révolution dans la révolution“ von Régis Debray, der Lehren aus Castros Partisanenkampf zog. Auf dem Campus der Freien Universität Berlin hatte ich Rudi Dutschke gelauscht und dem Philosophen Herbert Marcuse zu Füßen gesessen, und ich glaubte zu wissen, wo es lang ging. 

Schon der erste Augenschein bei der Ankunft in Port-au-Prince strafte mein angelesenes Wissen Lügen. „Je n’ai d’ennemis que ceux de la patrie“ und „Vive l’an X de la révolution Duvaliériste“ stand auf die Straßen überspannenden Transparenten, die sich im warmen Wind bauschten, zwischen Telefondrähten, auf denen Gras wuchs, obwohl oder weil es damals, 1968, in Port-au-Prince keine Straßenbeleuchtung und kein Telefonnetz mehr gab. Die Stadt lag in tiefer Dunkelheit, und nur wenige Autos waren unterwegs, Lastwagen, Jeeps und vereinzelte Taxis, deren Fahrer, genannt Chauffeurs-Guides, Polizeispitzel waren. Ich hatte die russische, chinesische und kubanische Revolution studiert, aber von der duvalieristischen Revolution hatte ich noch nie etwas gehört. Der Slogan bezog sich auf den Diktator François Duvalier, genannt Papa Doc, einen früheren Landarzt, der 1957 die Wahlen gewann und danach Haiti mit eiserner Faust regierte: Duvalier hatte alle Feinde und Rivalen ausgetrickst, Putschversuche und bewaffnete Revolten im Blut erstickt, den US-Botschafter ausgewiesen und aus Kuba entsandte Guerilleros exekutiert, und man munkelte, er habe John F. Kennedy ermorden lassen, als der ihm die Militär- und Wirtschaftshilfe strich, angeblich mit einem Voodoo-Fluch. In Haiti war nichts unmöglich, denn George de Mohrenschildt, ein Exilrusse, der Lee Harvey Oswald das Gewehr besorgte, mit dem er Kennedy erschoss, hatte vorher in Port-au-Prince gelebt, und Papa Doc, im schwarzen Anzug, mit Hut, Krawatte und dunkler Brille, sah nicht nur aus wie Baron Samstag: Er war der haitianische Totengott, Oberpriester des Voodoo-Kults und Chef der Tontons Macoutes, die nachts auf Menschenjagd gingen und echte oder eingebildete Regimegegner liquidierten, auch wenn die mit den Gesuchten nur den Vor- oder Nachnamen gemeinsam hatten. Duvalier hielt lange, wirre Reden, die das Volk nicht verstand, weil er kein kreolisch, sondern französisch sprach, näselnd wie ein Zombie. Er bezeichnete sich als immaterielles Wesen („Je suis un être immatériel“), ließ sich von auf Lastwagen herangekarrten Bauern bejubeln und proklamierte sich selbst zum Staatschef auf Lebenszeit. Statt des Vater Unser führte er einen Treueid auf Papa Doc als obligatorisches Schulgebet ein, ließ rebellierende Studenten im Beisein von Schulkindern erschießen, nannte Jesus Christus, Mohammed, Dschingis Khan, Atatürk, Mao und De Gaulle als Vorbilder und berief, bevor er eines natürlichen Todes starb, seinen Sohn Jean-Claude zum Präsidenten auf Lebenszeit. Weil Baby Doc noch minderjährig war, musste dazu die Verfassung geändert werden. 

Nach den Schüssen auf Rudi Dutschke, während Berliner Studenten das Springerhaus belagerten, um die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern, trottete ich, vom Jet Lag betäubt, durch die Straßen von Port-au-Prince, verfolgt von zerlumpten Kindern, die mich mit Bananenschalen bewarfen, weil sie noch nie einen Weißen gesehen hatten. Mein Hemd war nass geschwitzt, und keuchend bahnte ich mir einen Weg zwischen Ochsenkarren, von halbnackten Männern gezogen, Händlerinnen, die Mangos feilboten, und auf der Fahrbahn sich öffnenden Löchern, die Passanten und Motorroller samt Passagieren verschluckten. Die Kanalisation stammte aus dem 18. Jahrhundert und war von Tierkadavern, manchmal auch von Leichen verstopft. Es war eine neue Erfahrung, aufgrund meiner Hautfarbe und meiner Slippers, die für arme Haitianer unerschwinglich waren, der weißen Oberschicht zugerechnet und ständig angebettelt zu werden: Ba’m youn dola, blan – der Refrain: „Gib mir einen Dollar, Weißer“, gellt mir noch jetzt in den Ohren. 

Politisch, so schien mir, war der Fall klar. Dieses Land ist eine Schweinerei, hatte USPräsident Johnson gesagt: Das Elend stank zum Himmel in Amerikas schmutzigem Hinterhof, nur zwei Flugstunden von Miami entfernt, und schuld daran war Washington, genauer gesagt der US-Imperialismus. Was Haiti brauchte, um sich auf eigene Beine zu stellen, war eine Revolution wie in Kuba, je gewalttätiger desto besser, wie der Sklavenaufstand von 1791, in dem die Schwarzen ihre Freiheit und später die Unabhängigkeit von Frankreich erkämpft hatten, 1804 durch die Staatsgründung besiegelt. Erst 1864, unter Lincoln, erkannte Washington Haitis Unabhängigkeit an, ein Schritt, den Paris sich mit einer Million Goldfrancs bezahlen ließ, weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Die Existenz einer schwarzen Republik, wo die Sklaverei verboten war und Weiße nur auf Widerruf geduldet wurden, war ein Skandal aus Sicht der Kolonialmächte und ein historisches Unikum noch dazu, weil seit den Tagen des Spartacus kein Sklavenaufstand Erfolg gehabt hatte. 

Je mehr ich über die Geschichte Haitis hörte und las, desto mehr verfestigte sich mein Eindruck, dass Papa Docs Diktatur wie ein Kartenhaus zusammenbrechen würde, sobald das Volk sich erhob, und vielleicht war das der Grund, warum jedes Mal, wenn von dem Staatschef die Rede war, das Gespräch in Flüstern überging. Feind hört mit! Auf Hausangestellte und Nachbarn war kein Verlass, und eine kritische Bemerkung oder ein politischer Witz genügten, um nach Fort Dimanche eingeliefert zu werden. So hieß das Todeslager des Regimes, und so ging es einem Dozenten aus Paris, der Studenten von den Mai-Unruhen erzählte und danach spurlos verschwand. 

In der Folgezeit habe ich immer wieder Haiti besucht, und es war ein schmerzhafter Lernprozess, bis ich begriff, dass Papa Docs Schreckensherrschaft und das Marionettenregime seines Sohnes Baby Doc nicht auf tönernen Füßen standen, sondern gut vernetzt und fest verwurzelt waren. Nur so ist es zu erklären, dass der korrupte Familienclan 29 Jahre lang jede freiheitliche Regung unterdrücken und das Volk bis aufs Hemd ausplündern konnte, und dass das Erbe der Duvalier-Diktatur bis heute weiterwirkt und Haitis politisches Leben vergiftet. Nach dem heroischen Befreiungskrieg, auf den die Haitianer mit Recht stolz sind, war friedlicher Machtwechsel die Ausnahme, Palastrevolten und Militärputschs die Regel. Abgesehen von seltenen Lichtblicken war und ist die Geschichte Haitis eine Kette von Umstürzen, begleitet von Plünderungen und Massakern, wobei zwischen Revolution und Konterrevolution kaum ein Unterschied besteht, solange die politische Klasse sich auf Kosten der Armen bereichert. Schuldzuweisungen an externe Akteure, allen voran die USA, die viel zu lange nach dem Motto: Er ist zwar ein Schuft, aber er ist unser Schuft, despotische Regimes duldeten oder finanzierten, helfen nicht weiter. Jede Diktatur verfügt über in- und ausländische Komplizen, doch Haitis Elend ist überwiegend hausgemacht, ähnlich wie die Arbeitslosen- und Analphabetenrate von 60 Prozent. Eine deprimierende Bilanz, doch in diesem Punkt stimmen auswärtige Beobachter mit haitianischen Intellektuellen, Entwicklungshelfern und UN-Beamten überein, die das Chaos mehr schlecht als recht verwalten. 

2 Memórias del subdesarollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung) heißt ein zu Recht berühmter kubanischer Film, der 1968 beim Filmfest in Cannes und beim Sun Dance Festival in den USA Furore machte. Der Regisseur Tomás Gutiérrez Alea durfte dorthin nicht einreisen, obwohl der Film auch in Havanna missfiel und ähnlich wie Aleas Meisterwerk „Fresa y Chocolate“ (Erdbeer und Schokolade) nur wegen seines Welterfolgs der Zensur entging. Kubanische und internationale Kritiker waren sich einig, dass Memórias del subdesarollo zu den seltenen Ausnahmen gehört, wo eine Verfilmung gelungener ist als die literarische Vorlage, ein Roman von Edmundo Desnoes. 

Lange bevor ich das Buch las und den Film zu sehen bekam, nahm ich dessen Titel in mein literarisches Pantheon auf. Erinnerungen an die Unterentwicklung – so hieß meine erste Reportage aus und über Haiti, die ich im Sommer 1968 für die Weltwoche schrieb, mit Peter Bichsel als Feuilletonredakteur. Und genauso lautete der Arbeitstitel meines ersten HaitiRomans, der 1984 unter der Überschrift Die Hochzeit von Port-au-Prince bei Suhrkamp erschien. Was mir an dem zum geflügelten Wort gewordenen Titel gefiel, war dessen Doppeldeutigkeit: Dem Betrachter des Films wird nicht klar, ob Unterentwicklung sich auf Kuba vor der Revolution bezieht oder auf die Person des Helden, der den Vorurteilen und Privilegien seiner Klasse verhaftet bleibt, obgleich er – anders als seine Eltern, die Kuba verlassen – die Revolution bejaht und dazubleiben beschließt. Oder beschreibt der Terminus Unterentwicklung das Leben in Kuba nach der Revolution? Auch dafür spricht Einiges, und hier liegt die bleibende Aktualität des Films, dessen Bildsprache von Frankreichs nouvelle vague beeinflusst war, Stichwort „À bout de souffle“ (Außer Atem) von Jean-Luc Godard, wiewohl er eine typisch kubanische Geschichte erzählt. Es geht um die Unentschiedenheit eines jungen Intellektuellen, der hin- und hergerissen ist zwischen wechselnden Geliebten und der Liebe zur Revolution: Ein Hamlet-Syndrom, das auch der zeitgleich entstandenen DDRLiteratur zugrunde lag – Christa Wolfs Roman „Der geteilte Himmel“ ist ein Beispiel dafür. Fliehen oder standhalten, das war die Frage, mitmachen oder rübermachen, wie die DDRBürger sagten, ein Dilemma, das der chilenische Dichter Nicanor Parra so ausdrückte: „Mein Bauch ist in den USA, aber mein Herz ist in Vietnam.“ Noch prägnanter hat Lu Xun, der chinesische Brecht, die Sache auf den Punkt gebracht: „Wenn man mich auffordert, mein Leben für die Revolution zu opfern, wage ich es nicht, nein zu sagen. Aber wenn man mich einlädt, eine Tasse Tee zu trinken, fühle ich mich wohler.“ Oder, an anderer Stelle: „Eine Revolution, die mit Dichtern wie mir nicht aufräumt, ist keine gründliche!“ Wie prophetisch dieser Satz war, hat Lu Xun nicht geahnt, weil er vor Maos Machtantritt starb und die Kulturrevolution nicht mehr erlebte. 

3 Kuba und China kenne ich nicht bloß vom Hörensagen. Ich habe in beiden Ländern gelebt und als Visiting Writer und Gastprofessor Studierenden die Bedeutung Haitis für die deutsche Literatur zu vermitteln versucht – von Kleists Verlobung in St. Domingo bis zu Heiner Müllers Drama Der Auftrag, das auf einer Novelle von Anna Seghers beruht – nicht zu vergessen Hubert Fichte und H. C. Buch. Chinas jahrtausendealte Kultur ist ein Kapitel für sich, aber auch in Kuba brauchte ich lange, um hinter die Propagandafassade zu blicken und herauszufinden, dass nicht alles Gold ist, was als Errungenschaft der Revolution gepriesen wird. Schon vor Castros Machtergreifung war Kuba im Vergleich zu Haiti ein entwickeltes Land mit Straßen- und Schienennetz, Elektrizität und Telefon, und Havanna war seit jeher die Kulturmetropole der Karibik. Meine Tante Jeanne fuhr mit dem Hapag Lloyd-Dampfer von Port-au-Prince zum Einkaufen dorthin, weil es in Kuba nicht nur von der Mafia betriebene Bordelle und Casinos gab, sondern elegante Geschäfte und Kaufhäuser, Konzertsäle, Kinos, Theater und schicke Hotels, trotz schockierender Armut, Kriminalität und Prostitution, die Castros Revolution nicht abgeschafft, sondern auf eine andere Ebene verlagert hat. Diese Feststellung stellt den sozialen Fortschritt nicht in Frage, den Kuba im Gesundheits- und Bildungsbereich erzielt hat, aber das Stichwort Erinnerungen an die Unterentwicklung ist auch hierzulande aktuell. 

4 Die Frage drängt sich auf, ob das, was ich am Beispiel Haitis und Kubas aufzuzeigen versuchte, auf die Dritte Welt insgesamt übertragbar ist. Die Antwort heißt nein, denn jeder Staat der Welt ist eine Geisel seiner Geschichte, aus der es kein Entkommen gibt, eine Bilanz, die beim Blick auf frühere Kolonialgebiete noch negativer ausfällt als andernorts. Nicht nur Haiti, auch Liberia und Sierra Leone wurden von ehemaligen Sklaven gegründet, die von Philanthropen freigekauft und in ihre vermutete Heimat verschifft wurden: Wie in einem Lehrstück von Brecht unterjochten die Ex-Sklaven die ortsansässige Bevölkerung und betätigten sich selbst als Sklavenhändler. Die durch Export von Diamanten und Tropenholz finanzierten Bürgerkriege der neunziger Jahre in Liberia und Sierra Leone waren Spätfolgen dieser Entwicklung, Beispiele dafür, wie gute Absichten schlimme Resultate zeitigen und Befreiung in Unterdrückung umschlagen kann. Auch Somalia und Eritrea wurden, ähnlich wie Kuba oder Haiti, von Diktatoren regiert, die sich im Kalten Krieg auf die eine oder andere Seite schlugen, manchmal auch auf beide zugleich. Doch die Schnittmenge zwischen Ostafrika und der Karibik ist so gering, dass der Vergleich nicht weiterführt, obwohl es in beiden Regionen Boat People gibt, die sich Schlepperbanden anvertrauen und auf lecken Booten ihr Leben riskieren, im Mittelmeer wie in der karibischen See. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe die an den Strand gespülten Leichen gesehen und im Osten des Kongo Kindersoldaten ins Auge geblickt, die mit Drogen und Alkohol scharf gemacht und zum Töten gedrillt wurden. In Kibeho, einem Lager im Süden Ruandas, erlebte ich ein Massaker mit Tausenden Toten, die in meinem Beisein niedergemetzelt wurden. Eine junge Mutter reichte mir ihr Baby, um es zu retten, aber weil ich um mein Leben fürchtete, stieß ich sie brüsk zurück – noch heute mache ich mir deshalb Vorwürfe. Das war im April 1995, ein Jahr nach dem Völkermord, und diesmal wurden Hutu-Zivilisten von Tutsi-Soldaten massakriert - nicht umgekehrt. Ruanda ist seit dem Genozid von 1994 ein Lieblingskind des Westens und erhält mehr Entwicklungshilfe als andere Länder Afrikas, obwohl Ruandas starker Mann, Paul Kagame, sich den Osten der Kongo-Republik unter den Nagel gerissen hat, die HutuBevölkerung gnadenlos unterdrückt und politische Gegner mundtot machen oder ermorden lässt. Die Oppositionsführerin sitzt seit Jahren im Gefängnis, der Gründer der grünen Partei wurde enthauptet aufgefunden und ein prominenter Regimekritiker in Südafrika liquidiert, was Kagame mit dem Satz kommentierte, nicht die österreichische Regierung habe Jörg Haider umgebracht. Deutschlands Wirtschaftsbosse, die Kanzlerin und der Außenminister rollten rote Teppiche für Kagame aus, der, wie einst in der DDR, die letzten Wahlen mit 97 Prozent gewann. An dieser Stelle könnte ich Exkurse über Bokassa, Idi Amin und HouphouëtBoigny einschalten, der in seinem Geburtsort Yamoussoukro die größte Kathedrale Afrikas bauen ließ. Oder über Mobutu, der seinem Heimatdorf Gbadolite einen Flughafen mit goldener Kuppel spendierte und offiziell Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu Wa Zabanga hieß – der Held, der von Sieg zu Sieg schreitet, oder der Hahn, der keine Henne unbestiegen lässt – je nachdem, welche Übersetzung man vorzieht. Aber das ist Schnee von gestern. Als Reporter für die Zeit und andere Medien habe ich im Lauf der Jahre zahlreiche Kriegsund Krisengebiete besucht, die ich wie ein Mantra herunterbeten könnte: Von Algerien bis Tschetschenien und von Osttimor bis Westsudan, aber ich will es bei der Drohung bewenden lassen. Stattdessen möchte ich von meiner letzten Reise berichten, die mich nach Gambia führte, ein vom Rest der Welt vergessenes Land am Delta des gleichnamigen Flusses. 

5 Die gute Nachricht vorab: Der Staatschef von Gambia, einer englischsprachigen Enklave im frankophonen Senegal, spricht sich nach reiflicher Überlegung, wie er sagt, gegen weibliche Genitalverstümmelung aus, hat die endgültige Entscheidung aber an das von Mullahs dominierte Parlament delegiert. Gleichzeitig erklärte er Gambia zum islamischen Staat. 

Cheikh Alhadj Professor Dr. Yahya Abdul-Aziz Jemus Junkung Jammeh Babili Mansa - so der volle Name des Präsidenten - war stets für Überraschungen gut, seit er sich als 29jähriger Leutnant an die Macht geputscht und seinen Amtsvorgänger Jawara abgesetzt hat, einen Tierarzt, der nach der Rückkehr aus dem Exil heute wieder in Gambia lebt. 

Der Putsch war unblutig. Erst später hat Jammeh, der seit 21 Jahren diktatorisch regiert, an Gegnern und Rivalen blutige Exempel statuiert, obwohl oder weil die Revolution vom 22. Juli keines der ehrgeizigen Ziele erreichte, von denen auf Propagandapostern die Rede ist: Ausrottung von Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit. Stattdessen werden Kritiker ausgerottet, die die Misswirtschaft beim Namen nennen. 

Gambia ist ein colonial backwater, wie man auf Englisch sagt. Die Mangrovenwälder, natürliches Habitat seltener Pflanzen und Tiere, wurden zu Holzkohle verarbeitet und müssen mühsam aufgeforstet werden, und die Wüste ist auf dem Vormarsch. Der Harmattan, staubtrockener Sahara-Wind, überzieht die Feuchtgebiete mit Sand, der sich auf Clubsesseln und Sofas ablagert, die am Straßenrand verkauft werden, Prestigemöbel aus der Konkursmasse des British Empire. Daneben ein Compound der Vereinten Nationen, die zahlreich vertreten sind, weil Gambia zu den ärmsten Ländern der Welt gehört, sowie die EUMission, deren Chefin ausgewiesen wurde, weil sie es gewagt hat, Menschenrechtsverletzungen zu kritisieren. Und, durch Nato-Draht und mannshohe Mauern geschützt, die britische High Commission und die US-Botschaft, der neuerdings die VR China Konkurrenz macht. Saudi-Arabien und Katar errichten Medressas und Moscheen, und es heißt, der Präsident habe Gambia zum islamischen Staat erklärt, um bei den Golfstaaten Geld locker zu machen. 

Es gibt indische und arabische Restaurants, anglikanische Kirchen und Schulen sowie evangelikale Gebetshäuser neben Banken aus dem Mittleren Osten, die dem bankrotten Regime Geld borgen zum horrenden Zinssatz von 22 Prozent. 

Nicht bloß das Wasser- und Elektrizitätswerk, Telefonfirmen und Fähren sind pleite, auch die Fabriken und Farmen, die Jammeh für einen Apfel und ein Ei erwarb, schreiben rote Zahlen. Außer Erdnüssen exportiert Gambia nichts, selbst das Hauptnahrungsmittel Reis muss importiert werden. Einzige Devisenquelle ist der Tourismus, der sich nur langsam vom durch Ebola bewirkten Rückgang erholt, obwohl Gambia von der Seuche verschont blieb. Der Staatschef behauptet allen Ernstes, Zaubertränke gegen Hexerei und Aids erfunden zu haben, die er an willkürlich aufgegriffenen Passanten ausprobieren lässt. Gleichzeitig vergleicht er Schwule mit Moskitos, die er abklatschen will. Während das Volk darüber rätselte, welche seiner drei Frauen die First Lady ist, erklärte Jammeh, um sein Image zu verbessern, Plastiktüten für illegal und erließ eine Amnestie für Mörder und Vergewaltiger - nur Studenten, die ihn in Internet-Foren kritisierten, bleiben im Folterzentrum Two Miles inhaftiert. Doch die Amnestierten können Gambia nicht verlassen, weil ihre Pässe abgelaufen sind und keine neuen Personalausweise ausgestellt werden. 

„Alle wollen weg von hier, lieber heute als morgen, egal wohin“, sagt Pabi, ein Rap-Sänger, der sich mit der Reparatur von Handys ein schmales Zubrot verdient. 

95 von hundert Jugendlichen möchten auswandern, fügt er auf Nachfrage hinzu, aber nur fünf erreichten Europa und schickten Geld an ihre Familien, die sich die Reisekosten vom Munde absparten. Pabi zieht es nach Amerika, das laut Alex Haleys Beststeller Roots von aus Gambia verschleppten Sklaven urbar gemacht wurde, aber auch Deutschland gefällt ihm, weil es Fußball-Weltmeister ist. 

„Zwei Wege führen ins Gelobte Land – der Königsweg mit offiziellem Visum via Türkei und Griechenland, oder der Todesmarsch durch die Sahara und die gefährliche Fahrt übers Mittelmeer: Back Way heißt der Fachausdruck dafür.“ 

Einer seiner Freunde, berichtet Pabi, habe den Todesmarsch überlebt und ihm von einer Eritreerin erzählt, deren Kind in der Wüste verdurstet sei; um Dieben zuvorzukommen, habe sie Dollarscheine verschluckt. Zur Strafe hätten die Räuber sie brutal vergewaltigt und den Geiern zum Frass vorgeworfen. 

„Immer wenn ich an Mutter Afrika denke, muss ich weinen, aber ich habe keine Zeit dazu, weil ich das Haus meiner in Deutschland lebenden Schwester bewachen muss.“ Das von Pabi gehütete Haus liegt am Rand eines Bolzplatzes, auf dem Ziegen weiden und nackte Kinder Fußball spielen, während beißender Rauch von der angrenzenden Müllhalde steigt. 

Außer bei Armee und Polizei gebe es keine Jobs, meint Pabi: 1,8 Millionen Gambianer lebten unter der Armutsgrenze, und der Präsident verschenke Luxuslimousinen an Sänger aus Senegal, die sein Regime mit Lobliedern preisen. „Aber ein Machtwechsel bringt nichts“, setzt er resigniert hinzu: „Unter neuer Führung fängt das Plündern und Stehlen von vorne an.“ 

Hans Christoph Buch lebt in Berlin. Sein Essay „Boat People – Literatur als Geisterschiff“ und der Roman „Elf Arten das Eis zu brechen“ erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt.

 

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